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Ostothek Bild1

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Ostothek

Inv.-Nr. Sk 150

Mittelantoninisch, um 160 n. Chr.

Weißer, mittelkristalliner, gelblich patinierter Marmor Phrygium (aus Dokimeion).

Kasten: L 80 cm
B 41 cm
H 37,5 cm
Deckel: L 83 cm
B 42 cm
H (max.) 24,5 cm



Zugang: Schenkung der Familiengesellschaft Dierichs, Kassel 2007; vormals Leihgabe Inv. ALg 70 seit 1975. (Erworben 1975 im Kunsthandel K. Alavi, Zürich.)


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Erhaltungszustand/Restaurierung: Kasten und Deckel aus Fragmenten zusammengesetzt. Keine Ergänzungen. Teile des Kastenbodens und der VS unter dem Gorgoneion fehlen, ebenso der Kopf des Gelagerten und Teile der Eroten auf dem Deckel, auf der VS Kopf des Mannes, auf der RS Teile von Beinen und Füßen der drei mittleren Eroten, auf der l. NS der Kopf des Vogels. Hände und Fuß des Gelagerten auf dem Deckel beschädigt, ebenso r. Arm der Frau und Hände des Mannes auf der VS, auf der RS r. Arm des Eros mit Fackel. Oberfläche des Kastens und Rand des Deckels stellenweise bestoßen. Weiße und ockerfarbene Versinterungen, Spuren von Wurzelfasern. Restaurierung 1975 und 2001: gereinigt.

Beschreibung: Kannelierte Eckpilaster geben der Ostothek eine architektonische Gliederung. Die Kapitelle mit Abakusblüte zeigen über einem Blattdekor je zwei Paare antithetisch eingerollter Voluten, auf der Front einen Pfeifenfries. Die Sockelleiste des Kastens ist nur mit dem Zahneisen geglättet, der obere Rand profiliert. Ein Falz und je zwei Zapflöcher auf den Langseiten dienen der Befestigung des ausgehöhlten Deckels. Die Innenfläche des Kastens ist gespitzt.

Das Zentrum der Frontseite nimmt ein Schild (Clipeus) ein, den ein großes Gorgoneion fast vollständig bedeckt. In dessen wirrem, schlangenartigen Haar sind über der Stirn zwei kleine Flügel zu erkennen. Unter seinem Kinn ist ein Schlangenband verknotet. Zwei flügellose Eroten im Ausfallschritt, die mit einer Chlamys bekleidet sind, halten den Clipeus. Sie wenden ihre Köpfe jeweils nach außen zu zwei kleineren menschlichen Figuren. Links steht eine Frau in Chiton und Himation, dessen Tuch sie über ihren Hinterkopf gezogen hat. Sie blickt nach rechts. Ihr Haar läuft vom Mittelscheitel aus in Wellen zum Nacken. Rechts steht ein Mann in Tunika, Mantel (Pallium) und Sandalen, der seinen Kopf wohl nach links wandte.

Auf der rechten Schmalseite umarmen sich Eros und Psyche. Eros ist als nackter Knabe mit Vogelflügeln wiedergegeben. Psyche hat Schmetterlingsflügel. Um ihren Unterkörper ist ein Gewand geschlungen. Ihr gescheiteltes Haar ist in Wellen als Kranz zum Nacken geführt und dort zu einem Knoten aufgenommen. Die linke Schmalseite zeigt zwei Eroten, deren rechter einen Vogel im Arm hält. Der linke scheint seinen Kameraden führen zu wollen.

Auf der Rückseite sind fünf Eroten locker aneinandergereiht. Nur der linke mit dem Manteltuch über der Schulter hat Flügel. Er schreitet nach rechts und trägt in seiner gesenkten rechten Hand eine Fackel, in seiner erhobenen linken zwei Früchte. Der vor ihm schreitende wendet sich zu ihm um und hält rechts eine Syrinx, links ein Lagobolon. Rechts von diesen beiden schließt sich eine Gruppe zweier miteinander ringender Eroten an. Der Eros am rechten Rand hat den Überschlag seiner Chlamys mit Früchten gefüllt und trägt in seiner rechten Hand zwei Enten.

Die pummeligen Eroten haben kleine Köpfe mit pausbäckigen Gesichtern und tragen lange Locken mit einem Stirnknoten, die beiden auf der Front sind etwas schlanker und gestreckter. Die Köpfe aller Figuren reichen bis vor das Randprofil des Kastens hinein.

Der Deckel hat die Form eines Ruhebettes (Kline). Seine profilierte Unterkante weist je zwei Bossen an den Langseiten und je eine an den Schmalseiten auf. Das Fulcrum auf der Frontseite mündet in einen Pferdekopf. Auf der mit senkrechten Schmuckborten verzierten Matratze liegt am Kopfende ein flaches Keilkissen. Darauf stützt sich ein gelagerter Mann in Ärmeltunika und Pallium. Seine rechte Hand ruht auf einer Buchrolle, auf der noch die Ansatzstelle des ehemals hinweisend ausgestreckten Zeigefingers erhalten ist. Mit der linken Hand hält er die Rotulus-Enden einer weiteren Buchrolle. Am Fußende der Matratze sitzt ein Eros mit Vogel; ein weiterer, der nur teilweise erhalten ist, stützte sich auf das Fulcrum.

Die Ostothek (Knochenkiste) gehört der kleinasiatischen Torre-Nova-Gruppe an. Sie umfasst Sarkophage und Ostotheken mit Friesdekor, denen Ecksäulen bzw. Eckpilaster ein architektonisches Gerüst verleihen (Wiegartz 1965, 17. 42 ff.; Waelkens 1982, 50 ff.). Die Vertreter der Gruppe wurden etwa zwischen 150 und 170 n. Chr. in der Werkstatt von Dokimeion in Phrygien hergestellt (Waelkens 1982, 50 ff.; Andreae 1981; Koch 1993, 115 ff.). Sie bilden das Bindeglied zwischen den Fries- und den noch stärker architektonisch geprägten Säulensarkophagen der Dokimeionwerkstatt (Waelkens 1982, 50).

Der tektonische Aufbau spiegelt den Gedanken vom Grab als Haus des Toten wieder, dessen Tradition in der kleinasiatischen Sepulkralarchitektur bis in das 3. Jts. v. Chr. zurückreicht und besonders in Phrygien vom 8. Jh. v. Chr. an stark ausgeprägt war (Waelkens 1980; Andreae 1981; Waelkens 1982, 122). Die auf griechische Einflüsse zurückgehende Verwendung von Säulen verleiht den Grabmonumenten vom 4. Jh. v. Chr. an Tempelform und gleicht sie den Heiligtümern von Heroen an. Durch die Eckpilaster erhält auch dieses Exemplar den Charakter eines Heroons für den Verstorbenen (Waelkens 1980, Andreae 1981).

Der repräsentative Klinendeckel dient ebenfalls der Heroisierung des Toten (Andreae 1981). Er ersetzt in der Produktion der Dokimeionwerkstatt etwa seit 160 n. Chr. den bis dahin gebräuchlichen Dachdeckel (Waelkens 1980; Waelkens 1982, 50; Koch 1993, 52). Die Bossen an der Sockelleiste des Kasseler Klinendeckels sind ein typologisches Relikt derartiger architektonischer Vorgänger. Sie stellen Balkenköpfe dar. Es handelt sich nicht um Hebevorrichtungen (Wiegartz 1965, 36; Waelkens 1980). Die Verwendung von Klinendeckeln in Kleinasien geht höchstwahrscheinlich auf den Einfluss der stadtrömischen Produktion zurück (Wrede 1977, 415. 430; Wrede 1984). Dort treten bereits in der frühen Kaiserzeit Klinenmonumente auf, die an etruskische Traditionen anknüpfen (Andreae 1981; Koch 1993, 65 f.). Die Haltung des Gelagerten erinnert an den ›Heros auf der Kline‹ (Andreae 1981), der von hellenistischen Totenmahlreliefs her geläufig ist.

Die Frisur der Frau auf der Kasseler Kastenfront orientiert sich an Porträts der Kaiserin Faustina Minor (Andreae 1981). Das gleiche gilt für die Haartracht der Psyche auf der rechten Schmalseite. Sie erlaubt eine noch genauere zeitliche Eingrenzung, da sie dem Bildnistypus VI der Kaiserin entspricht, der in den Jahren kurz vor 160 n. Chr. geschaffen wurde. Seine Frisur erfreute sich auch unter den mittelantoninischen Privatporträts großer Beliebtheit. Die Ostothek muß folglich in den Jahren um 160 n. Chr. entstanden sein. Die Deckelfigur zeigt den Verstorbenen mit argumentierender Gebärde beim Vergleich verschiedener Schriften und präsentiert ihn so als Gebildeten (Andreae 1981). Die männliche Figur auf der Kastenfront trug wohl ebenfalls seinen Porträtkopf. Der Typus mit Pallium ist hellenistischen Ursprungs und kann in römischer Zeit auf den Kontakt des Dargestellten mit der griechischen Kultur und auf seine Bildung verweisen (Bieber 1977, 129 ff.). Die Frau des Verstorbenen ist auf der Front in dem griechischen Typus der ›Großen Herkulanerin‹ wiedergegeben, dessen Tradition bis in die frühhellenistische Zeit zurückreicht (Bieber 1977, 148 ff.). In der antoninischen Epoche ist er sehr beliebt für Porträtfiguren verheirateter Frauen. In Kombination mit dem männlichen Palliumtypus dient er der Darstellung von Ehepaaren (Bieber 1977, 157).

Das unheilabwehrende Gorgoneion soll den Toten beschützen. Seine zentrale Position und das Motiv der clipeushaltenden Eroten, das der römischen Staatskunst entlehnt ist (Andreae 1981), betonen seine Bedeutung. Die zahlreichen Erotendarstellungen innerhalb der Torre-Nova-Gruppe hängen wohl von attischen Vorbildern ab (Wiegartz 1965, 42; Koch – Sichtermann 1982). Auf dem Kasseler Exemplar enthalten sie in ihren Attributen Anspielungen auf Jahreszeitenzyklen und den dionysischen Thiasos (Andreae 1981). Sie drücken die Hoffnung auf ein glückliches Weiterleben im Jenseits aus (Koch 1993, 57). Im Kontext der Ostothek werden sie auch als Sinnbild der Liebe interpretiert, die den Tod überdauert (Andreae 1981).

Die Produkte der Torre-Nova-Gruppe waren vorwiegend für den Export nach Pamphylien und Italien bestimmt (Waelkens 1982, 50. 108). Die Übernahme stadtrömischer und attischer Anregungen erfolgte wohl im Zeichen der Konkurrenz mit den Erzeugnissen dortiger Werkstätten auf den Exportmärkten (Waelkens 1982, 127).

Die Darstellungen auf der Kasseler Ostothek und ihre Kombination sind stark personenbezogen. Dies ist bei vielen Produkten der Dokimeionwerkstatt zu beobachten, was dafür spricht, dass sie jeweils auf Bestellung angefertigt wurden (Waelkens 1982, 126). Das Kasseler Exemplar verbindet in kunstvoller Weise eine Vielzahl von bedeutungstragenden Elementen, ohne überladen zu wirken. Es veranschaulicht zugleich den reichen Motiv- und Formenschatz, aus dem die kaiserzeitlichen Bildhauer schöpfen konnten. In ihm fließen die unterschiedlichen Kunsttraditionen verschiedener Regionen des Imperium Romanum zusammen.

Publiziert:
Slg. Dierichs 1981, 177 ff. Nr. 82 (B. Andreae).


Literatur: H. Wiegartz, Kleinasiatische Säulensarkophage, IstForsch 26 (1965) 17. 34 ff. 42 ff.; M. Bieber, Ancient Copies (1977) 129 ff. 148 ff.; H. Wrede, JdI 92, 1977, 395 ff.; M. Waelkens, AW 11, 1980, 3 ff.; M. Waelkens, Dokimeion, AF 11 (1982) 50 ff., 56 Nr. 20. 105 ff.; G. Koch – H. Sichtermann, Römische Sarkophage (1982) 500 ff.; H. Wrede, MarbWPr 1984, 105 ff.; G. Koch, Sarkophage der Römischen Kaiserzeit (1993) 52. 57. 65 f. 113 ff. – Zur Datierung: K. Fittschen, Die Bildnistypen der Faustina Minor und die Fecunditas Augustae (1982) 53 ff.; s. hier Kat. 4.14.

(NZE)

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