Homer Büste, überlebensgroß Inv.-Nr. F 365
Neuzeitliche Kopie, Ende 17. bis Anfang 18. Jh. nach der Büste Neapel MNA 6023 (Slg. Farnese), vermutlich von François Girardon (1628–1715).
Weißer, feinkristalliner Marmor mit wenigen grauen Adern.
H ursprünglich 94 cm H heute 70 cm B 66 cm
Zugang: Erworben 1750 für Landgraf Wilhelm VIII. auf der Auktion in Den Haag, Slg. Wassenaer-Obdam. |
Erhaltungszustand/Restaurierung: Starke Beschädigungen durch Brand und Sturz im 2. Weltkrieg: mehrfach gebrochen, Kalotte und Hinterkopf abgesprengt, Nase und Schläfenlocken verloren, ringsum viele Abplatzungen der Oberfläche; in Gips ergänzt: r. Oberlippe, Halsansatz vorn, Gewandsaum vorn auf der Brust, Gewand oben auf r. Schulter, Teile des Büstenpfeilers. Restaurierung 1985/86: gereinigt, zusammengesetzt, ergänzt, mit Standdübel gesockelt.
Beschreibung: Die stark beschädigte Büste zeigt den Kopf eines bärtigen, alten Mannes. Er trägt einen Reif im gelockten Haar, dessen lange Schläfenlocken weggebrochen sind. Der Porträtkopf sitzt auf einer großen drapierten Büste. Sie ist an den Seiten gerundet und mit einer Mittelstrebe auf der konkav gewölbten Rückseite versehen.
Diese Büste wurde offensichtlich nach dem Vorbild der Homer-Büste aus der Slg. Farnese in Neapel gearbeitet, bei der es sich um eine römische Kopie des 2. Jhs. n. Chr. nach einem Original des 2. Jhs. v. Chr. handelt. Sie gilt als der Hauptvertreter des hellenistischen sog. Blinder Homer-Typus, der mit 22 römischen Repliken zahlenmäßig die drei anderen, älteren Typen übertrifft. Da die Bildnisse der einzelnen Typen in großer zeitlicher Entfernung (5., 4., 3./2. Jh. v. Chr.) von der vermutlichen Lebenszeit des griechischen Dichters Homer (8. Jh. v. Chr.) entstanden, geben sie die Vorstellungen wieder, die sich die jeweiligen Epochen vom Aussehen des in den Schriftquellen meist als blind geschilderten Dichters machten.
Obwohl sich das Kasseler Exemplar auf die Neapeler Büste bezieht, unterscheidet es sich von ihr und auch von allen anderen in Betracht zu ziehenden Repliken durch einige Merkmale. Der Kopf scheint länger und das Gesicht weniger von Falten durchfurcht zu sein, Haupt- und Barthaare sind sorgfältig gearbeitet und nicht in Strähnen, sondern in einzelnen Locken gebohrt, die Ohren werden von den gebauschten Seitenlocken nicht verdeckt. Unter dem Reif, der das Haar des Oberkopfes zusammenfasst, kommen über der Stirn und seitlich an den Schläfen kleine Locken hervor. Für die mächtige, über den Schulteransatz hinausreichende Büste mit ihrer in große, tiefe Faltenbahnen gelegten Gewanddrapierung findet sich unter den erhaltenen, bekleideten Repliken kein Vergleichsbeispiel; zudem ist die Kleidung der meisten Büsten modern ergänzt, so auch beim Neapeler Homer. Diese Einzelbeobachtungen führten zu der Feststellung, dass der Kasseler Homer zwar den hellenistischen Blinden-Typus wiedergibt, sich aber von allen bisher bekannten Repliken dieses Typus unterscheidet.
Form, Größe und Art der Marmorbearbeitung ergaben Hinweise auf Renaissance- und Barockbildhauer wie Michelangelo (1475–1564) und Bernini (1589–1680), in deren Œuvre sich ähnliche große, drapierte Büsten finden. In den Kasseler Inventaren von J. Arckenholtz (Antiquarius 1746–1766) und von L. Völkel (Antiquarius 1789/95–1829) ist die Büste als Werk des Michelangelo aufgeführt, während der Auktionskatalog sie als »Opus Cel. Girardon« verzeichnet. Hallo (1926) vermutete daher, man habe während der Auktion versucht, den Homer als Werk Michelangelos auszugeben, um einen höheren Preis zu erzielen, womit man bei dem »harmlosen Rat Arckenholtz« auch Erfolg gehabt habe. Die Zuweisung an Michelangelo bleibt trotz gewisser Ähnlichkeiten z. B. mit dessen Brutus-Büste im Bargello Florenz überaus vage. Der Hinweis im Auktionskatalog auf François Girardon ist allerdings interessant, denn bei diesem handelt es sich um einen französischen Bildhauer, der nach Studienaufenthalten in Rom, wo er bei Gian Lorenzo Bernini lernte, in Paris zum Hofbildhauer Ludwigs XIV. avancierte. Neben seiner maßgeblichen Beteiligung am skulpturalen Ausstattungsprogramm von Versailles war er unter anderem auch mit der Restaurierung von antiken Skulpturen und der Anfertigung von Kopien für die königliche Sammlung beschäftigt. Er war zudem ein leidenschaftlicher Sammler von antiken und nachantiken Skulpturen und Bronzen, die er in seinem Studio im Louvre aufstellen konnte und von denen er ein mit Stichen versehenes Inventar erstellte. Unter der Nr. 247 dieses Inventars sind zwei Homerbüsten unterschiedlicher Größe genannt, die auch beide abgebildet sind und wohl als eigenhändige Werke angesehen werden können. Die größere der beiden Büsten kann nach ihrem Aussehen und der Maßangabe von drei Fuß durchaus mit dem Kasseler Homer in Verbindung gebracht werden. Form der Büste, Art der Gewanddrapierung und Marmorarbeit lassen sich überdies in vergleichbarer Weise an Skulpturen aus seiner Werkstatt wiederfinden. Diese Beobachtungen stützen die Vermutung, dass es sich entsprechend der Angabe des Auktionskataloges um ein Werk Girardons handelt, das nach antikem Vorbild und in der Tradition der Renaissancekünstler das hellenistische Bildnis des Homer in barocker Formgebung darstellt. Es bleibt zukünftigen Studien vorbehalten, die Autorschaft und die zeitliche Einordnung in das Oeuvre von Girardon (Jugendwerk nach dem Romaufenthalte? Später unter dem Eindruck der Restaurierungsarbeiten an den Antiken der königlichen Sammlung entstanden?) zu klären.
Hallo (1926) hat vermutet, dass die Homerbüste aus der Slg. Reynst stammen könnte und aus dieser in den Besitz von Gerrit Uylenburgh, eines Großvetters der Frau Rembrandts, gelangte. Durch diesen sei dann Rembrandt in den Besitz der Büste bzw. eines Abgusses gekommen, der ihm als Modell für sein 1653 entstandenes Gemälde ›Aristoteles‹ (heute New York, Metropolitan Museum) diente. Die Büste auf diesem Bild gibt zwar den Homertypus Neapel 6023 wieder, kann aber wegen ihrer nach unten schmäler werdenden, hermenartigen Form mit der Kasseler Büste nicht zweifelsfrei identifiziert werden (Boosen 1985/91). Die im Besitz Rembrandts überlieferte Homerbüste, von der nicht bekannt ist, ob es sich um ein Original, eine Kopie, einen Abguß oder eine Umbildung handelte, fiel der Pfändung seines Hausrats 1656 zum Opfer und ist seitdem verschollen.
Publiziert:
Wassenaer Auktion 1750, Nr. 355; R. Hallo, Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 55, N. F. 45, 1926, 283 Abb.; R. Hallo, Repertorium für Kunstwissenschaft 47, 1926, 278 Anm. 1.
Literatur: Boosen 1985/91, Nr. 69. – Zur Homerbüste von Girardon: F. Souchal, Gazette des Beaux-Arts Juli/August 1973, 29 Taf. XIII A; 90 Nr. 247; 25 Taf. IX A weitere Homerbüste. – Zur Homer-Büste Neapel MNA 6023 Slg. Farnese: Richter 1965a, 50 ff. Nr. 7; D. Kreikenbom in: S. Schulze (Hrsg.), Goethe und die Kunst. AK Frankfurt (1994) 38 ff. 51 ff. Nr. 9 Abb. Kopie von A. Trippel; Nr. 10 Abb. antike Hermenreplik Schwerin Inv. 1900. – Nachbildung der Homerbüste Neapel von B. Cavaceppi: Slg. Wallmoden 1979, Nr. 52 Abb. (K. Fittschen). – Büste des Brutus von Michelangelo, Florenz, Bargello: U. Baldini, L’Opera completa di Michelangelo scultore (1981) Nr. 46. – Porträtbüste Michelangelos von B. Lorenzi, Florenz, S. Croce: H. Utz, MetrMusJ 7, 1973, 37–70, 40 Abb. 1. – Büsten von G. L. Bernini: S. Rinehart, Burlington Magazine August 1967, 437–443; I. Lavin, Burlington Magazine Januar 1985, 32–38. – Zu Rembrandts Slg.: J. Six, Oud Holland 15, 1897, 1–10; C. Hofstede de Groot, Die Urkunden über Rembrandt (1906) 198 Nr. 163; H. v. Einem, Wallraf-Richartz-Jahrbuch XIV, 1952, 182–205; K. Clark, Rembrandt and the Italian Renaissance (1966) 76–80; B. Haak, Rembrandt. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit (1969) 240–243 Abb. 403; J. S. Held, Rembrandts Aristotle (1969) 17–18; R. W. Scheller, Oud Holland 84, 1969, 81–147, bes. 103; A. B. De Vries, Rembrandt in the Maurits huis (1978).
(PG)
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