Ephebenliste Fragmentierte Inschriftenstele Inv.-Nr. Sk 60
Um 178/179 n. Chr.
Weißer, mittel-grobkristalliner Marmor, leicht bläulich.
H 67 cm B 35 cm T 9,8 cm Fundort: Athen (?)
Zugang: 1688 von hessischen Truppen für Landgraf Karl aus Athen mitgebracht. |
Erhaltungszustand/Restaurierung: Oberer Teil, r. Seite und l. untere Ecke fehlen; r. senkrechter Sprung von der oberen Bruchkante her; untere und l. Randleiste bestoßen. Absplitterungen auf der Oberfläche. Relief bestoßen und abgerieben. Punktuelle Sinterspuren. Glimmerspuren auf r. Seitenfläche entlang der Äderung, außerdem zwei teilweise verfüllte Dübellöcher. Restaurierung 1985: gereinigt, Bruch zweifach verdübelt und geklebt, Aufhängung montiert.
Beschreibung: Der untere Abschluß und die abgeschrägte linke Rahmenleiste der Stele sind teilweise erhalten. Die linke Seitenfläche ist mit dem Zahneisen geglättet, die Rückseite geraut. Die Reliefdarstellung über der unteren Abschlußleiste zeigt einen Schiffsrumpf, auf dem zwei nackte junge Männer nach rechts laufen. Der vordere hält mit beiden Händen einen Gegenstand schräg nach vorne, bei dem es sich wahrscheinlich um ein Ruder handelt. Der folgende streckt seinen linken Arm vor, seine geöffnete Hand ist jedoch leer. In seiner rechten Hand trägt er einen runden Gegenstand vor seinem Körper, möglicherweise einen Kranz. Hinter ihm hockt ein dritter bekleideter Mann. Ein Rest seines kurzen Gewandes ist über seinem linken Knie sichtbar. Er umgreift mit beiden Händen ein Steuerruder.
Das Schiff ist anscheinend gerade dabei anzulegen, die Anstrengung des Manövers spiegelt sich in der Haltung des Steuermanns wieder. Die beiden anderen Männer sind im Begriff loszulaufen. Die Bewegung des vorderen Mannes ist energischer als die des folgenden, sein linkes Knie ist stärker angewinkelt, sein rechtes Bein gespannter nach hinten gestreckt, der Oberkörper deutlich nach vorne geneigt. Mit seinem zurückgesetzten Fuß scheint er sich vom Schiffsdeck abzustemmen. Eine starke Dynamik kennzeichnet die Komposition der Szene, deren Bewegung sich von links unten nach rechts oben steigert.
Den größten Teil des Bildfeldes nimmt folgende Namensliste ein, deren Anfang verloren ist. Die erste überlieferte Zeile ist kaum noch lesbar.
[…]ΚΙΑΝΟΣ ) ΑΦΡ[…]
ΕΡΜΟΓΕΝΗΣ )[…] ΑΙΕ[…]
ΑΡΤΕΜΩΝ ΣΥΜΦΟΡΟΥ […]Σ
ΦΙΛΟΜΟΥΣΟΣ ΕΡΜΟΓΕΝ[…] […]ΥΣ
5 ΣΩΚΡΑΤΗΣ ) […] Θ[…]ΕΥΣ
ΔΙΟΝΥΣΟΔΩΡΟΣ ΕΥΟΔΟΥ [Μ]ΑΡΑΘΩΝΙΟ[Σ]
ΕΠΕΝΓΡΑΦΟΙ (Text eradiert)
ΑΤΤΙΚΟΣ ΕΥΟΔ[Ο]Υ (Text eradiert)
ΓΑΪΟΣΙΟΥΛΙΟΣ ΕΙΣΙΔ[Ο]ΤΟΣ
10 ΠΕΙΝΑΡΙΟΣ ΑΓΑΘΟΠΟ[…]Σ
ΘΗΣΕΥΣ ΕΥΤΥΧ[…]Υ[…]
ΑΤΤΙΚΟΣ )
ΟΡΦΕΥΣ )
ΦΛ ΖΩΣΙΜΟΣ
15 ΔΙΟΝΥΣΙΟΣ ΕΥΤΥΧΟΥΣ (Text eradiert)
ΟΝΗΣΙΜΟΣ ΕΙΣΑ
ΑΓΑΘΟΔΩΡΟΣ (Text eradiert)
ΕΠΙΓΟΝΟΣ ΔΟΡΥΦΟΡΟΥ
[Ε]ΥΤΥΧΑΣ ΜΕΝΑΝΔΡΟΥ
20 ΣΕΚΟΥΝΔΟΣ
[…]ΕΡΟΚΛΗΣ ΣΕΚΟΥΝΔΟΥ
ΣΩΦΡ[Ο]ΝΙΣΤΑΙ
ΚΙΘΑΙΡΩΝ ) ΑΧΑΡΝΕΥΣ
Σ[ΤΡ]ΑΤΩΝ ΚΙΘΑΙΡΩΝΟΣ ΑΧΑΡΝΕΥΣ
25 ΑΓΑΘΩΝ ΕΙΣΙΔΟΤΟΥ ΑΧΑΡΝΕΥΣ
ΑΠΟΛΛΩΝΙΟΣ ) ΣΦΗΤΤΙΟΣ
ΑΤΤΙΚΟΣ |ΕΥΟΔ|ΟΥ ΕΠΕΓΡΨΑ (Text eradiert)
Das aus Athen stammende Stelenfragment lässt sich einer Gruppe kaiserzeitlicher attischer Inschriftenstelen anschliessen. Sie verzeichnen jeweils die Epheben oder einzelne Ephebengruppen eines Jahrgangs und wurden zu Ehren der Kosmeten aufgestellt, die als gewählte Amtsträger der Polis Athen für die Ausbildung der Epheben verantwortlich waren. Die letzte Ausbildungsphase der Ephebie sollte die 18–20-jährigen jungen Männer auf ihr Leben als Polisbürger vorbereiten. In der hellenistischen Epoche und der Kaiserzeit verlor sie ihren ursprünglichen Charakter als Militärdienst. Sportliche Wettbewerbe, kultische Elemente und geistige Bildung traten in den Vordergrund. An der anscheinend nicht mehr obligatorischen Ephebie nahmen nur noch die Söhne wohlhabenderer Familien teil. Vom 1. Jh. v. Chr. an waren auch Fremde, d. h. Nicht-Athener zugelassen.
Analog zu den übrigen Stelen der Gruppe muß sich über dem Inschriftenfeld entweder ein Giebel oder eine weitere Reliefdarstellung befunden haben. Sie zeigt oft zwei Epheben, die einen Kosmeten bekränzen, oder sportliche Agone (Bieber 1915, Datsouli-Stavridi 1984, Rhomiopoulou 1997).
Die Inschriften führen üblicherweise zunächst die Ausbilder auf, die anschließende Liste der Epheben nennt zuerst die Athener Bürger, dann als επένγραφοι die Fremden (Bieber 1915, Oliver 1971, Rhomiopoulou 1997). Auf der Stele in Kassel sind nur noch die Namen von sechs Bürgersöhnen erhalten, vollständig dagegen die von 14 Fremden. Die Nennung der Ausbilder (σωφρονίσται) am Schluß der Liste ist ungewöhnlich (Bieber 1915). Die Aufzeichnung weist mehrere Korrekturen auf. In Zeile 7 wurde rechts von der Überschrift Text getilgt, in Zeile 17 der Vatersname. In Zeile 8 wurde der Vatersname, in Zeile 15 der Name des Epheben in die Rasur eines vorigen Textes eingesetzt. In Zeile 27 wurden auf diese Weise einige Buchstaben des Vatersnamens geändert.
Die Kosten derartiger Ehrenstelen trugen die Epheben (Lattanzi 1968). Die letzte Zeile besagt, dass der επένγραφος Attikos, der Sohn des Euodos, die Stele anfertigen ließ. Die Nennung von Straton, Sohn des Kithairon, als Sophronisten ermöglicht ihre Datierung in das Jahr 178/179 n. Chr. (Bieber 1915).
Unterhalb des Inschriftenfeldes findet sich häufig das Reliefbild eines oder mehrerer Ruderboote mit Besatzung. Die Kasseler Darstellung ist motivisch mit dem Relief einer Stele im Nationalmuseum Athen zu vergleichen (Bieber 1915), das drei Epheben in einem Boot zeigt (Svoronos 1908). Der vorderste läuft mit erhobenem Ruder voran, der folgende hält einen Kranz und schultert einen Palmzweig, der Steuermann bildet den Abschluß. Derartige Reliefbilder verweisen auf Ruderwettkämpfe oder Naumachie-Agone, die von den Epheben ausgetragen wurden (Bieber 1915; Oliver 1971; Rhomiopoulou 1997, Nr. 35. 37–38). Sie fanden u. a. anlässlich des Festes der Artemis Munichia zur Feier des Sieges statt, den die Griechen 479 v. Chr. in der Seeschlacht von Salamis über die Perser errungen hatten und den sie auf die Unterstützung der Göttin zurückführten (Deubner 1959, Simon 1969). Als weiterer Helfer in der Seeschlacht galt der Heros Aias von Salamis, dessen Fest ebenfalls mit einer Regatta sowie einem Wettlauf begangen wurde (Deubner 1959).
Die dynamische Bewegung des vorwärtsstürmenden Epheben auf dem Kasseler Relief könnte auf den Beginn eines Wettlaufs im Anschluß an eine Regatta hindeuten. Die Darstellung spielt also möglicherweise auf die Beteiligung der Epheben an den Agonen zur Feier des Seesieges von Salamis an (Bieber 1915). Das Stelenfragment wäre somit ein Beleg für den Fortbestand und die Pflege attischer Traditionen bis in die römische Kaiserzeit. In der Verehrung der heroischen Vorfahren spiegelt sich das Selbstbewußtsein der Polis wider. Die Ephebie bleibt als Institution für die Ausbildung der Elite ein wichtiges Element griechischer Identität, die sich seit hellenistischer Zeit vor allem über die Bildung definiert (Gehrke 1997).
Publiziert:
J. M. Gesner, Marmoris Casselani quo Antiquitates quaedam Gymnasticae Athenensium continentur illustratio, in: Commentarii Societat. Scient. Göttingen praelecta IV, 1754, 24 ff.; Bieber 1915, Nr. 79 Taf. 33. – Zur Inschrift: IG III 1 Nr. 1139. – Zum Fundort: L. Beschi, RIA 25, 2002, 32 (vielleicht aus dem Diogeneion am NO-Abhang der Akropolis Athen?)
Literatur: J. N. Svoronos, Das Athener Nationalmuseum (1908) Nr. 1470 Taf. 110. – Zu den Ephebenstelen: E. Lattanzi, I Ritratti dei Cosmeti nel Museo Nazionale di Atene (1968) 80 ff.; J. H. Oliver, AEphem 1971, 66 ff.; A. Datsouli-Stavridi, AEphem 1984, 179 ff.; O. Tzachou-Alexandri (Hrsg.), Mind and Body. Athletic Contests in Ancient Greece. AK Athen (1989) Nr. 87 (D. Peppa-Delmousou). 206 (V. Machaira); K. Rhomiopoulou, Ελληνορωμαϊκά Γλυπτά του Εθνικού Αρχαιολογικού Μουσείου(1997) 46 ff. Nr. 35–38. – Zur Ephebie: Lattanzi a. O., 5 ff.; V. Schild-Xenidou, AM 112, 1997, 261 ff.; DNP 3 (1997) 1071 ff. s. v. Ephebeia (H.-J. Gehrke). – Zu den Wettkämpfen: L. Deubner, Attische Feste, 2. Auflage (1959) 204 f. 228; E. Simon, Die Götter der Griechen (1969) 175 f.
(NZE)
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