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Nemesis Bild4

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Nemesis
Statuette
Inv.-Nr. Sk 129

Römische Nachbildung, um 150-170 n. Chr. in Anlehnung an die ungeflügelte Nemesis Typ Smyrna um 300 v. Chr.

Weißer, fein- bis mittelkristalliner Marmor, Reste von Bemalung und Vergoldung

H insgesamt 42,8 cm
H der Figur 37,5 cm
H Kinn bis Stirnhaar 3,4 cm
Basis: B 18,3 cm
T 13,4 cm


Fundort: Angeblich aus Kleinasien.

Zugang: Erworben 1977 im Kunsthandel M. Yeganeh, Frankfurt am Main, mit Zuwendungen von Kali + Salz AG Kassel, Hessisches Kultusministerium (Sondermittel) Wiesbaden, Raiffeisenverband Kurhessen Kassel, Stadtsparkasse Kassel, Wintershall AG Kassel.


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Erhaltungszustand/Restaurierung: Unergänzt. Oberfläche partiell versintert; keine Verwitterungsspuren. Haut und Gewandvorderseite poliert; übrige Oberfläche geglättet. Augenlider skizzenhaft modelliert, Außenseite des Rades nicht modelliert, Haarschopf und Nackenfrisur (Zopf?) bossiert; RS schematisch ausgeführt. Pinkfarbene Reste auf Diadem, Rad, Schnabel und Auge des Greifen, Sandalen; Reste von Vergoldung auf Haaren, Elle, Rad (Speichen, Nabe, Felge). Im Halsbruch unterhalb der Nackenbosse geklebt. Geringfügig bestoßen: Plinthenrand; an dem Greifen: Schnabel, r. Flügel, Hinterleib; an der Nemesis: Diademrand, Nasenspitze, Kinn, l. Mittelfinger, Gewand unter dem r. Ellenbogen. Verloren: antik angestückte Teile der Elle über und unter der l. Hand. Restaurierung 1977: partiell gereinigt. Restaurierung 1985: gereinigt, entsintert, Farben und Vergoldung mit Paraloid gefestigt, antiken rostenden Eisenstiftrest unten an der Elle entfernt.

Beschreibung: Nemesis steht mit einem männlichen Greifen an ihrer linken Seite auf einer profilierten Basis. Die Göttin mit l. Standbein und zurückgesetztem angewinkeltem Spielbein hält in der gesenkten linken Hand eine Elle. Der vierkantige Messstab reichte mit dem oben angestückten Teil über den Mantelbausch bis in die Armbeuge; zwischen Daumen sowie Zeige- und Mittelfinger gehalten, war der untere Teil verdübelt angefügt. Ein eckiger Puntello zwischen der Hand und dem Gewand sichert das freie Halten des göttlichen Attributes. Mit der rechten Hand vor der Brust zieht sie den Saum ihres Chitons etwas nach vorn. Ihre leichte gesenkte und zur Seite gewendete Kopfhaltung ist auf diese Hand gerichtet. Sie ist im Begriff, sich den Busen zu bespucken (gr. ptyein eis ton kolpon).

Die Göttin trägt ein hohes Diadem. Die Haare sind vom Mittelscheitel in welligen Strängen, die Ohren bedeckend, nach hinten im Nacken zusammengenommen. Der runde Haarschopf und der darunter keilförmig angelegte Nackenzopf sind in Bosse stehengeblieben. Je eine Seitenlocke fällt auf den Schultern bis nach vorn auf das Untergewand. Die Details der Statuette (Kalottenhaar, Gesichtszüge, Lider, Finger etc.) sind nur skizzenhaft gearbeitet; der Haarschopf (Krobylos), der Lockenstrang im Nacken und die Außenseite des Rades blieben bossiert. Auf der abgeflachten Rückseite sind Chiton und Mantel mit Bausch durch lineare Rillen sowie bogige Faltenrinnen schematisch unterteilt. Der Mantel liegt schleppenartig wie abgeschnitten hinten auf dem Plinthenrand. Nemesis ist mit einem geknöpften Ärmelchiton, der die Unterarme freilässt, bekleidet und einem Mantel, der vorn den Unterkörper und hinten den Rücken fast vollständig bedeckt. Von der Brust fällt der Chiton in wenigen Kaskadenfalten und seitlichen Staufalten bis zum Mantelbausch in Hüfthöhe herab. Das eine Ende des Bausches hat sie um den linken Unterarm geschlungen. Von der rechten Hüfte verläuft der Mantelbausch schräg über den Rücken über die linke Schulter nach vorn. Der vom Mantel bedeckte linke Oberarm liegt bis zum Ellenbogen am Körper und hält den Mantel fest, dessen Ende seitlich mit getreppten Falten neben dem hockenden Greifen herabhängt. Der bodenlange Mantel gibt nur die Spitzen der Füße mit Sandalen frei.

Neben der Göttin hockt zu ihrer Linken ein geflügelter Greif. Die rechte Pfote legt er auf die Felge eines achtspeichigen Rades mit Nabe, das auf den Betrachter gerichtet zwischen Greif und Nemesis steht. Die querovale Basis mit gerader Front besteht aus einer Standplatte, kräftiger Kehlung und Deckplatte, von der sich die flache gewölbte Standfläche als Plinthe durch eine Ritzfuge abhebt.

Nemesis, Göttin und Personifikation des rechten Maßes und der strafenden Vergeltung, hatte drei ostmediterrane Kultzentren und zahlreiche Kultstätten im gesamten Imperium Romanum (Karanastassis 1992). In den erschlossenen Kultbildern ist diese umfassende göttliche Macht unterschiedlich dargestellt worden. Die hochklassische Nemesisstatue im ländlichen Heiligtum in Rhamnous (Attika) scheint größere Anerkennung erst in römischer Zeit als künstlerisches Meisterwerk des Bildhauers Agorakritos erfahren zu haben. Das spätklassisch-frühhellenistische, doppelgestaltige Kultbild in Smyrna  (ionisches Kleinasien) hingegen hat typologisch und wesenhaft das Nemesisbild offensichtlich unmittelbar und langfristig im Hellenismus mitbestimmt. Das späthellenistische, für das Nemeseion in Alexandria (Ägypten) postulierte Kultbild wird vermutlich wegen seiner Adaption ägyptischer Bildelemente in einem hellenistisch-römischen Figurentypus beispielhaft und typenprägend für die vielgestaltigen römischen Darstellungsformen der Nemesis gewesen sein.

Für unsere Statuette ist eine zeitliche Bestimmung aus der stilistischen Ausführung der Gewandfigur und der Form der Basis zu erschließen. Der Gewandstil der Nemesis weist in die antoninische Zeit. Die strengen Vertikalfalten, gleichförmigen Faltenbögen und der schematische Zickzacksaum außen am Standbein wirken akademisch steif. Die Kaskadenfalten auf der Spielbeinseite ähneln in ihrer dekorativen Verselbständigung denen des Aphroditetorsos Kat. 1.29 und der Hygieiastatue Kat. 2.6. Auf eine differenzierende Wiedergabe des sich stauenden, teils mehrlagigen Stoffes von Chiton und Mantel ist weitgehend verzichtet. Kantig abgeflacht und von Bohrrillen begleitet sind getreppte Falten und Bäusche ausgeführt. Der herabhängende Mantel an der Standbeinseite und die breiten Bahnen auf der Rückseite werden vorwiegend durch langgezogene, lineare und wie geschnitten wirkende gebohrte Faltentäler gegliedert. Die etwas starre Gewandbehandlung mit großzügigen Falten, die sorgfältig polierte Oberfläche und die schlank proportionierte Gestalt sind mittel- bis spätantoninischen Gewandfiguren eigen (Kruse 1975). Der ovale Grundriss mit gerader Vorderkante ist für Basen seit traianisch-hadrianischer Zeit bezeugt (z. B. ‚Diomedes’ aus Cumae, Neapel 144978). Basen mit tiefer Kehlung zwischen zwei annähernd gleich dicken Platten sind vor allem seit mittel- bis spätantonischer Zeit bei großplastischen weiblichen Gewandstatuen und Statuetten festzustellen (Kruse 1975, Bartman 1992).

In dem Standmotiv, in der Gestik der Hände und in der Tracht folgt die Statuette dem erschlossenen und um 300 v. Chr. datierten Zwillingskultbild der ungeflügelten smyrnäischen Nemesis (Karanastassis 1992). Da das Standmotiv, das Gewand (Himation im Hüftbauschtyp, Ärmelchiton) und der Kopftyp (Haartracht, Diadem) seit klassischer Zeit mit minimalen Veränderungen für verschiedene weibliche Figurentypen Verwendung fanden, hatten die neuen Attribute und die besondere Gestik der smyrnäischen Nemesis typenbildende Funktion. Das Zwillingskultbild zeigte die gleichgestaltigen und einander zugewandten Nemeseis mit Elle bzw. Zügeln in der linken gesenkten Hand, während die rechte Hand den Chitonsaum am Halsausschnitt vorzog, um sich bei leicht geneigtem Kopf in den Ausschnitt zu spucken. Diese seit frühhellenistischer Zeit überlieferte Nemesis-Geste wenden Beistand und Schutz Suchende an, um Unheil und Strafe von sich abzuwenden. Nemesis vollzieht diese apotropäische Handlung paradigmatisch und stellvertretend für die Menschen. In der Gewandtracht weicht unsere Nemesis mit ihrem ungegürteten Chiton und bodenlangen Mantel geringfügig von dem smyrnäischen Kultbildtyp ab. In der Haartracht und dem Kopfschmuck mit dem hohen Diadem (stephane) stimmt sie mit den Nemeseis Smyrna und Rhamnous überein. Der Kopftypus ist von weiteren klassischen bzw. die klassische Tradition zitierenden Figuren bekannt und wird in römischer Zeit für ‚Konzeptfiguren’ der Hera, Aphrodite, Hygieia (s. hier Kat. 2.6) verwendet (Comstock - Vermeule 1976, Landwehr 1998).

Die Elle (gr. pechys) kennzeichnet Nemesis als die Wahrerin des rechten Maßes, das Götter und Menschen in Worten und Taten einzuhalten haben. Die Göttin achtet auf Gerechtigkeit, ist Richterin bei Wettkämpfen einschließlich sportlicher wie musischer Agone und rächt Zügellosigkeit und Vermessenheit (gr. hybris). Der Greif (gr. gryps) mit dem Rad (gr. trochós) scheint den Nemesisdarstellungen erst im späten Hellenismus hinzugefügt worden zu sein (Flagge 1975, Karanastassis 1992). Der altägyptische, sonnengebundene Greif – allsehend, allhörend, allgegenwärtig, allmächtig – verkörpert richterliche und rächende Gewalt wie Nemesis, die Hüterin der höheren Gesetze für alle Lebewesen des Kosmos. In der griechischen Welt ist das Fabeltier seit der Bronzezeit vor allem in Wächterfunktion bekannt (Flagge 1975). Das Rad begegnet erstmals als Sinnbild für ständiges Wenden des Schicksals im erotischen Bereich auf späthellenistischen Bildern (Karanastassis1992). Darüberhinaus steht es für rastlose Eile, den konstant kreisförmigen, sich wiederholenden Lauf des unentrinnbaren Schicksals; zugleich wird es kosmologisch z.B. mit dem Sonnenlauf in dauerhafter Bewegung und allumfassender und lebensspendender Macht gedeutet (Flagge 1975).

Ikonologisch bilden die in griechischer Tradition stehende Nemesisfigur und das in altägyptisch-orientalischer Tradition stehende Fabeltier mit Rad eine Verdoppelung gemeinsamer Wesenszüge. Die Zweiheit der Nemesis scheint bereits in dem Zwillingskultbild in Smyrna auf (Zweiheit schon in Rhamnous mit Nemesis und Themis angelegt?) und wirkt in den mannigfaltigen Nemesis-Adaptionen und Überformungen mit anderen Gottheiten lange fort. Die synkretistische Konfiguration dieser Nemesis ist vermutlich im ostmediterranen, ägyptischen bis kleinasiatischen Raum entwickelt worden. Darauf lassen die Nemeseis im Erinyentypus und im Victoriatypus (Kultbild des Nemeseion von Alexandria?) nach Verbreitung und Entstehungszeit schließen.

Unsere Statuettengruppe hat nach derzeitigem Wissensstand keine typengleichen Wiederholungen. Sie ist daher als singuläre eigenständig konzipierte Darstellung aus dem griechisch-römischen Kleinasien des vorgerückten 2. Jhs. n. Chr. zu betrachten. Sie kombiniert den bekannten hellenistischen Nemesistyp Smyrna mit dem der ägyptisch-orientalischen Kultur entlehnten, hockenden Greifen mit Rad. Die farblich gefasste und vergoldete Gruppe in der Art eines miniaturisierten Kultbildes könnte dem häuslichen Kult gedient haben.

Publiziert:
P. Gercke, AA 1983, 528 f. Nr. 77 Abb. 106-107; F. Baratte, RLouvre 3, 1981, 171 ff., 175 Abb. 11; LIMC VI (1992) 749 Nr. 173a Taf. 441 s. v. Nemesis (P. Karanastassis).


Literatur: Zu Nemesis-Typen insgesamt: LIMC VI (1992) 733 ff. 755 ff. s. v. Nemesis (P. Karanastassis); B. Schweitzer, JdI 46, 1931, 175 ff.; M. Tradler, Die Ikonographie der Nemesis (1998); R. Fleischer in: FS E. Akurgal. Anatolia 22, 1981-83 (1989) 127 ff. Abb. 1-5 Späthellenistische kleinasiatische Nemesis, Figurentypus Colonna-Borghese (?); M. B. Hornum, Nemesis and the Roman State and the Games (1993) 320. 324. 327. 329 Smyrna-Typus, zit. Kat. 2.14. – Zu antoninischen Vergleichen: Kruse 1975, Nr. C 36 Taf. 38; Nr. D 75 Taf. 64; Nr. D 121 Taf. 76 Basen; 204 ff. Taf. 10. 81 Statuen; Bartman 1992, 173 Nr. 3 Abb. 86.87; 179 Nr. 14 Abb. 81.82 Basen; 63-87 Kritische Würdigung miniaturisierter Repliken im Verhältnis zur Großplastik. – Zu vergleichbaren Gewandfiguren klassischer bis frühhellenistischer Zeit: Ameinodora, Grabrelief Athen Nat. Mus. 3283 um 380 v. Chr.: H. Diepolder, Die attischen Grabreliefs (1931. Nachdruck1965) 38 Taf. 33,1; Themisstatue aus dem Nemeseion Rhamnous, Athen Nat. Mus. 231 ca. 280 v. Chr.: Lullies 1979, 121 f. Abb. 244.; vgl. den tiefen Hüftbauschmantel der Aphrodite Typus Arles, Paris Louvre Ma 439: Fuchs 1979, 216 Abb. 233; AK Paris 2007, 134-139 Abb. 96 a.b Kat. 28-32 (A. Pasquier). – Zum Kopftypus und ‚Konzeptfiguren’: Comstock – Vermeule 1976, Nr. 184 Abb.; Landwehr 1998, 139 ff. – Zu Greif und Rad bei Nemesis: I. Flagge, Untersuchungen zur Bedeutung des Greifen (1975) 106 f. 108. 111 f.; LIMC VI a. O 756. 759; J. Quaegebeur, De l’origine égyptienne du griffon Némesis, in: F. Jouan (Hrsg.), Visages du destin dans les mythologiques. Mélanges Jacqueline Duchemin (1983) 41-54. – Zum Nemeseion Alexandria: Flagge a. O. 107 Anm. 12 ; 109 Anm. 29; G. Grimm, Alexandria (1998) 132 Abb. 9 Lokalisierung; K. Parlasca in: H. v. Steuben (Hrsg.), Antike Porträts. Zum Gedächtnis von Helga von Heintze (1999) 279 f. Taf. 67, 3.4 Nemesisstatuetten (Victoriatypus) mit Porträtkopf; B. Lichocka, Némésis en Egypte Romaine. Aegyptiaca Treverensia 5 (2004).

(PG)

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