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Knabe sich aufstützend Bild1

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Knabe sich aufstützend
Statuentorso, unterlebensgroß
Inv.-Nr. Sk 13

Römisch, Variante aus der 2. Hälfte 1. Jh. n. Chr. in Anlehnung an griechische Vorbilder

Weißer, mittelkristalliner Marmor, kleine Rostflecken

H des Torsos 72 cm
Distanz Brustwarzen 17,7 cm
Distanz Halsgrube bis Penis 36,5 cm
Halsgrube bis Nabel 26 cm



Zugang: Erworben 1777 durch Landgraf Friedrich II. in Italien


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Erhaltungszustand/Restaurierung: Unergänzt. Oberfläche bestoßen, kleine Kratzer und Kerben. Bohrlöcher in Oberarmen, Oberschenkeln, Rücken. Verloren: Kopf mit Hals, beide Arme ab Bizeps, beide Unterschenkel mit Knie, Plinthe mit Statuenstütze; r. Kniekehle gebrochen. Vor 1777 Oberfläche geputzt, Schnitte und Abarbeitungen für Ergänzungen und Montage mit Kopf Kat. 1.36; Bohrlöcher für Anstückungen, Satyrschwanz. Restaurierung 1912/13: (Bieber 1915). Restaurierung 1973/75: Brüche und Anstückungen gelöst; restliche Marmorergänzungen, Eisen- und Messingdübel, Bleireste entfernt; gereinigt, zusammengesetzt, Fugen und Dübellöcher mit Gips geschlossen; mit Standdübel gesockelt.

Beschreibung: Der Torso ist zu einer ca. 1,00–1,10 m großen Statue zu vervollständigen. Der Knabe mit rechtem Standbein lehnt den Körper weit nach links und stützt sich auf der Spielbeinseite ab, wie die angespannte und hochgeschobene linke Schulter zeigt. Der vorgebeugte Kopf scheint sich aufgrund der steiler ansetzenden linken Halsflanke zur Spielbeinseite zu wenden. Der bis zum Bizepsansatz anliegende Oberarm ist leicht zurückgenommen. Auch der rechte Arm der entlasteten abgesenkten Schulter ist ab dem Bizeps frei neben dem Körper vorzustellen. Der Oberkörper dehnt und streckt sich zur Spielbeinseite, während die rechte Seite gesenkt und gestaucht ist. In der Gegenbewegung lädt die emporgestemmte Hüfte der Standbeinseite kräftig aus, die entlastete Hüfte bleibt flach gestreckt. Der Oberschenkel des Spielbeins ragt vor, der Unterschenkel war zurück und leicht auswärts gesetzt. Der entspannte Oberkörper ist zurückgelehnt. Die prägnante Tailleneinziehung markiert den Wechsel der gegensätzlichen Bewegungen von Ober- und Unterkörper. Kindlich weiche Formen der Brust und des sich wölbenden Bauches mit eingetieftem Nabel, das kleine Geschlecht ohne Pubes mit den steil hochgezogenen Leistenlinien und die nicht artikulierte Rückenmuskulatur mit sanft gerundeten, hängenden Glutäen zeigen das junge Lebensalter des Knaben an. Er hat das Ephebenalter, das 15–16-jährig mit der Pubertät begann, und wohl auch die Vorstufe eines Mellepheben noch nicht ganz erreicht. Ähnliche weiche Körperformen sind an Knabenbildern spät-klassischer Grabreliefs anzutreffen, die nicht das reale Alter der Verstorbenen widerspiegeln, sondern in proleptischer Darstellungsweise am Übergang vom Pais zum Mellepheben auf ein Leben als zukünftiger Palästrit hinweisen, das den Frühverstorbenen nicht beschieden war (zuletzt Dickmann 2002).

Der spätklassischen Kunst ist auch die Haltung und Bewegung dieses Torsos verpflichtet. Er stimmt in der Größe, in dem Stand-, Ponderations- und Stützmotiv ungefähr mit dem ›Narkissos‹ (H ca. 1,10 m) überein (s. hier Kat. 1.13). Er weicht aber in der Armhaltung, in der Körperbildung und jüngeren Altersstufe ab und gehört nicht zu den Wiederholungen dieses Figurentypus. Der linke aufgestützte Oberarm ist etwas mehr zur Seite geführt und liegt nicht bis zur Ellenbeuge am Körper an. Vom ›Narkissos‹ unterscheidet er sich auch durch den rechten entlasteten, parallel neben dem Körper abwärts geführten Oberarm. Unter den Nach- und Umbildungen des ›Narkissos‹ zu Hermes-Merkur, Pan, Paris, Ganymed etc. finden sich ebenfalls keine Entsprechungen zu dem Kasseler Torso, von dem Repliken nicht bekannt sind. Das Handlungsmotiv und der Figurentypus des sich stützenden, betont kindlichen Torsos bleiben ohne Kopf, Arme, Attribute und Stand-Stütz-Motiv ebenfalls ungewiß – knabenhafter Palästrit, heroische oder mythologische Personifikation, Amor (?).

Seine teigig weiche Formgebung mit eingetieftem Nabel auf der Vorderseite und die vereinfachte Modellierung der Rückseite mit unorganisch begradigter Rückgratrinne und linear ornamentalisierter Konturierung der Glutäen deuten auf eine flavische Entstehung hin, soweit der Erhaltungszustand eine stilistische Bewertung zulässt. In der Körperbildung folgt er weniger der polykletischen Tradition mit ihrem differenziert gliedernden Bewegungsablauf, sondern er fasst die schwächer differenzierten Körperglieder zu fülligen gerundeten Formen zusammen, deren vereinfachten Aufbau eine Rumpf und Oberschenkel durchziehende Schwingung verschleift. Die im Vergleich zum ›Narkissos‹ der ›Polykletschule‹ ausgeprägtere Seitenneigung des Rumpfes, die auf der Spielbeinseite gleichförmigere Streckung der Silhouette und S-förmige Schwingung zeigen – wie seit langem erkannt (s. Bieber 1915, Linfert 1990, Berger 1992) – spätklassische ›praxitelische‹ Werke (s. hier Kat. 1.20, 1.21). In der Kombination von starker Seitenneigung bei gesenkten Oberarmen und starker S-förmiger Schwingung in dem gestauchten Rumpf geht unser Torso über die spätklassischen Stützmotive und Figurenkompositionen hinaus. Haltung, Rhythmus und fließend weiche Körperformen des Torsos sind auf die motivische und künstlerische Kontinuität von hellenistischer zu römischer Idealplastik zurückzuführen. Der anscheinend frühkaiserzeitliche Torso ist daher nicht den maßstäblichen Replikenserien von opera nobilia und deren spiegelbildlichen Wiederholungen zuzurechnen, sondern wahrscheinlicher den motivisch variierenden und stilistisch zitierenden Umbildungen oder den aus Versatzstücken kombinierten Neuschöpfungen bzw. eigenwertigen Konzeptfiguren im Zeitgeschmack (Landwehr 1998).

Publiziert:
Bieber 1915, Nr. 21 Taf. 16; Torso. Das Unvollendete als künstlerische Form. AK Recklinghausen (1964) Nr. 22 Abb. – Im Museum Fridericianum 1777–1912: Tiedemann 1779b, 15 f. Faun mit Flöte. – Im Musée Napoléon 1807–1815: Savoy 2003b, 34 f. Nr. 47 a Torso. b Kopf, Faun mit Flöte, Abb. Zustand seit 1974; Martinez 2004, 79 Nr. 0110 Abb.


Literatur: Zum ›Narkissos‹ der ›Polykletschule‹: s. Kat. 1.13. – Zu den praxitelischen Satyroi und Apollines: AK Basel 1992, 128. 132 Kap. 28 Satyroi Abb. 159–165. 353–356; 134. 137 Kap. 29 Apollon Sauroktonos Abb. 166–173. Abb. 356–364 (E. Berger). – Zu Knaben auf spätklassischen Grabreliefs: AK Berlin 2002, 320 Nr. 214 Grabrelief des (Phil)ostratos (J.-A. Dickmann). – Zu römischen Umbildungen, Umdeutungen und Neuschöpfungen in Anlehnung an ›Narkissos‹ und praxitelische Figuren: Zanker 1974, 26 f.; AK Frankfurt 1990, 284 f. (A. Linfert), 350 ff. (C. Maderna-Lauter); Landwehr (1998), grundsätzlich zur Problematik typologisch, motivisch und thematisch verwandter Figuren; Breuer 2001, Nr. 19 Abb. 53–57 Hermes.

(PG)

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