Athlet Statuenkopf, leicht überlebensgroß Inv.-Nr. Sk 114
Griechisch, um 340–330 v. Chr. Statuentypus unbekannt.
Weißer, feinkristalliner Marmor, beige Flecken
H insgesamt 31,5 cm H Kopf 26,5 cm B an Schläfen 14 cm Distanz äußere Augenwinkel 10,5 cm
Zugang: Erworben 1961 aus Slg. Juritzky, Paris (Dauerleihgabe des Landes Hessen seit 1961) |
Erhaltungszustand/Restaurierung: Unergänzt. Ringsum bestoßen, besonders an Augen, Brauen, Ohrmuscheln; Kratzer, Abplatzungen. Oberfläche speckig durch Säurereinigung (?). Hals geschnitten und Rand rundum schräg abgeschlagen; Flicken am r. Halsrand geklebt; am r. Halsrand minimaler Schulteransatz erhalten. Nasenrücken und Lippen abgeschlagen. Restaurierung 1973/75: gereinigt, partiell entsintert, Standdübel montiert. 1985 mit Standdübel gesockelt. 1986 entsintert.
Beschreibung: Ein junger bartloser Mann mit kurzlockiger Frisur hat den Kopf ein wenig zu seiner Linken gewendet. Die breite Stirn geht in einen kräftigen Stirn-Brauen-Wulst über, unter dem tiefliegende Augen intensiv hervorblicken. Schläfen, Wangen und Kinn bilden mit der kranzartig gerahmten Stirn ein vollschlankes Oval, das sich mit geradem Kinn vom stämmigen Hals abhebt. Der Mund ist leicht geöffnet. Die kleinen geschwollenen Ohren liegen eng an. Aus der Stirn bis zu den Schläfen wachsen kurze dichtgereihte Büschel empor. Das Haupthaar dahinter lässt nur noch partiell eine kappenartige Frisur aus kurzen Sichellocken erkennen. Auf dem Ober- und Hinterkopf und besonders im Nacken scheint die Frisur unfertig zu sein. Die Frisur, Ohren und das Antlitz kennzeichnen den unbekannten jungen Mann als Pankratiasten bzw. Faustkämpfer. Er ist in seiner Jugendblüte und nicht als alter, routinierter und vom Kampf gezeichneter Berufsathlet dargestellt. Der Körpertypus ist unbekannt.
Die ikonographischen Elemente und der spannungsvolle Wechsel von ovaler Kopfform in der Vorderansicht zur quadratischen Schädelform in den Seitenansichten sind charakteristisch für Athletenbildnisse in der 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. Die skizzenhafte Ausführung der Frisur begegnet sowohl an nahezu freiplastisch gearbeiteten Bildnissen Verstorbener in der gleichzeitigen Grabmalkunst als auch an rundplastischen Bildwerken. Der Athletenkopf in Olympia (Herrmann 1972) und die Athletenstatuen Agias und Agelaos des Daochos-Monumentes in Delphi (Dohrn 1968, Moreno 1995) stehen unserem Kopf motivisch und stilistisch so nahe, dass wir von zeitgleichen Werken um 340–330 v. Chr. ausgehen können. Den Kopf könnte man sich – obwohl geringer nach links gewendet als der Kopf des Pankratiasten Agias Delphi und der Kopf Olympia – gleichwohl auf einem nackten Körper etwa in der Haltung des Agias in Delphi vorstellen.
Das Daochos-Monument lehrt, dass Bildnisse dieser Zeit Sportler wiedergeben können, die ihre Siege vor langer Zeit in den traditionsreichen panhellenischen Wettkämpfen errangen und erst postum von späteren Generationen z. B. anlässlich der Errichtung einer Ahnengalerie mit einer Porträtstatue geehrt wurden. Diese leicht überlebensgroßen Bildnisstatuen geben Athleten nicht primär mit ihren individuellen Gesichtszügen wieder, sondern stellen vielmehr Vorfahren als Sportler im idealtypischen Zeitstil dar. Im Ensemble einer Galerie können Haarreifen diejenigen siegreichen Ahnen kennzeichnen, die bereits heroischen Kultstatus genießen. Postume Bildnisse gehören zu den Hochleistungen der Porträtkunst des späten 4. Jh. v. Chr. Im Bereich von Athletendarstellungen, soweit ihnen überhaupt individuelle Porträtzüge eigen sind, kann zwischen postumen und zeitgenössischen Bildnissen kaum unterschieden werden. Da dem Kasseler Kopf Indizien für einen Haarreifen fehlen, könnte das Bildnis einen jungen athletischen Sieger dieser Zeit darstellen.
In dieser Bildnisgattung hat die Forschung physiognomische Merkmale beobachtet, die stilistisch vor allem den Bildhauern Skopas und Lysippos zugeschrieben werden. ›Skopasische‹ Athletenköpfe zeichnen sich aus durch tiefliegende Augen unter kräftigem Brauenwulst, leicht geöffneten Mund mit stark geschwungener Oberlippe, breite Schläfenpartie mit hohen Wangen, ein eher kurzes und schmal ovales Untergesicht sowie einen in Profilansicht überraschend quadratischen Schädelumriss aus. Die Physiognomien sind von leidenschaftlicher Spannung erfüllt (Herrmann 1972). An Köpfen von Athletenstatuen, die Lysippos und seinem Umkreis zugeschrieben werden, wird eher die sphärische Kopfform mit kleinen Augen, die bewegte scheinbar aufgelöste Haarordnung und insgesamt ein das Pathos dämpfender, beseelter Ausdruck hervorgehoben (Dohrn 1968, Herrmann 1972). Diese Charakterisierungen erfassen zwei wichtige Tendenzen der Porträtstile in der Gattung jugendlicher Athletenbilder des späten 4. Jh. v. Chr. Aber für eine überzeugende Zuschreibung dieses Kopfes an einen Künstler reichen die allgemeinen Merkmale nicht aus, denn beide Bildhauer haben mit ihrer künstlerischen Handschrift stilbildend und typenprägend die Porträtkunst ihrer Zeit nachhaltig mitbeeinflusst.
Publiziert:
Berger 1962, Nr. 4 Abb.; E. Berger, Kunst in Hessen und am Mittelrhein 1/2, 1961/62, 59 Abb.; F. Rausa, L’immagine del vincitore (1994) 143 Abb. 31.
Literatur: Zu den Athleten Agias (Pankratiast) und Agelaos des Daochos-Monumentes Delphi (wohl gestiftet 338–334 v. Chr.): T. Dohrn, AntPl 8 (1968) 33 ff.; École française d’Athènes (Hrsg.), Guide de Delphes 6. Le musée (1991) 91 ff. Abb. 49. 50. 54 (O. Picard). J.-F. Bommelaer, Guide de Delphes 7. Le site (1991) 200 f. Nr. 511 Abb. 85; M. Maaß, Das antike Delphi (1993) 204 f. Abb. 90; P. Moreno, Lysippo (1995) 82 ff. – Zu skopasischen und lysippischen Athletenköpfen: Marmorkopf Slg. Conde de Lagunillas, Havanna. Archäologischer Kalender Verlag Philipp von Zabern 1978 (R. Hampe); Athletenkopf Olympia, H.-V. Herrmann, Olympia (1972) 172 Taf. 64–65, Pankratiast/Faustkämpfer; AK Frankfurt 1990, 280. 287 f. 291 f. (A. Linfert). – Zu Skopas: A. Stewart, Skopas of Paros (1977); Vollkommer 2004, 391 ff. s. v. Skopas (II) (C. Vorster). – Zu Lysippos: C. M. Edwards in: Palagia – Pollitt 1996, 145 ff.; Vollkommer 2004, 29 ff. s. v. Lysippos (I) (P. Moreno).
(PG)
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