Athena Typ ›Hephaisteia‹ Kopf einer unterlebensgroßen Statue Inv.-Nr. Sk 90
Römische Kopie, um 130–140 n. Chr. nach einem griechischen Vorbild um 420–400 v. Chr. Typus Athena ›Hephaisteia‹.
Weißgrauer, fein- bis mittelkristalliner Marmor
H insgesamt 23 cm H Kinn bis Haaransatz 12,5 cm B Schläfen 9,5 cm B äußere Augenwinkel (Gesicht, Helm) 7,2 cm
Zugang: Erworben 1777 durch Landgraf Friedrich II. in Italien |
Erhaltungszustand/Restaurierung: Unergänzt bis auf l. Hälfte der Unterlippe und Fehlstellen entlang des Bruches. Vertikaler Bruch quer durch Kopf und Hals; Helmkessel hinten brandgeschwärzt. Kleine Bestoßungen: l. Augenbraue, l. Augenwinkel des Helmes, l. Kesselrand, Frisur. Verloren: untere Hälfte der Nase, Spitzen des Wangenschutzes, Helmaufsatz. Vor 1777 Oberfläche geputzt, Schnitte und Abarbeitungen für Ergänzungen und Montage mit Torso Kat. 2.13. Restaurierung 1912/13: (Bieber 1915). Im 2. Weltkrieg hintere Kopfhälfte durch Brandhitze abgesprengt. Restaurierung 1973/75: Marmorergänzungen und Eisendübel entfernt, gereinigt, hintere Kopfhälfte wieder montiert, Dübellöcher und Bruchfugen mit Gips geschlossen; Standdübel montiert.
Beschreibung: Die jugendliche Göttin mit zarten aber doch festen Gesichtsformen hat den korinthischen Helm zurückgeschoben. Dem liebenswürdigen und zugleich entschiedenen Gesichtausdruck verleiht der schmale Mund besondere Lebendigkeit durch die gerundeten Lippen mit vorspringender Mitte der Oberlippe und die feine Mundspalte. Die freiplastischen Spitzen des Wangenschutzes verschatteten ehemals den Mittelscheitel. Von der Stirn ist das Haar in welligen, ziemlich parallelen Strähnen zu den Seiten über die Ohren bis in den Nacken gelegt. Im Bereich der seitlichen Helmeinschnitte zwischen Nacken- und Wangenschutz wird die Lederkappe im Helm sichtbar. Unter den schlaufenförmig umgeschlagenen Laschen staut sich das Haar und bedeckt die obere Hälfte der Ohren. Die wellig nach hinten gestrichenen Lockensträhnen sind unterhalb des Helmrandes zu einem breit ansetzenden Nackenzopf zusammengenommen, der dicht hinter dem linken Ohr den Nacken bedeckend herabhängt. Die Lockensträhnen hinter dem rechten Ohr sind weiter nach hinten gestrichen, die rechte Halsflanke ist stärker entblößt. Daraus ist zu erschließen, das Athena den Kopf etwas zur linken Seite dreht. Der in Kinnhöhe geschnittene Halsansatz scheint diese Bewegung zu bestätigen. Infolge der leichten Linksdrehung des Kopfes dienen minimale Asymmetrien (Augenform, nach rechts verschobener Mittelscheitel) dem perspektivischen Ausgleich. Den Helmkessel schmückte einst ein Helmbusch (und seitliche Helmzier?). Den unteren Rand und die Augenränder des Helmes schließt ein feiner, von einer Ritzlinie begleiteter Wulst ab.
Mit einigem Recht kann die vorzügliche Kopie auf ein bronzenes Vorbild aus dem letzten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. zurückgeführt werden. Dieser Athenakopf ist in zwei bis drei weiteren römischen Kopien überliefert (Bieber 1915; Breuer 2001). Die Kopfwiederholung auf der Statue Louvre Ma 847 gibt einen ersten Anhalt, den Figurentypus zu erschließen. Diese Athena trägt einen ungegürteten ›lakonischen‹ Peplos und entspricht in Ponderation und Gewanddarstellung dem Figurentypus Athena Cherchel. Allerdings weicht die Pariser Statue motivisch mit ihrer leichten Linkswendung des Kopfes, in der Ägisform und mit der Ciste in der linken Hand von dem Typus Cherchel ab, der in mehreren Torsorepliken übereinstimmend eine Schrägägis trägt und anscheinend den Kopf zur rechten Standbeinseite wendet sowie den Schild neben dem linken Spielbein auf einem Anthemion absetzt. Daher wird die Pariser Athena als Variante des Figurentypus Cherchel angesehen. Der Kopf Kassel und seine Replik Vatikan 264 (und Karlsruhe B 2407?) könnten von weiteren statuarischen Wiederholungen der Pariser Athena stammen. Ob diese Einzelköpfe nun zu einem eigenen mehrfach kopierten klassischen Athenatyp gehören oder ob es sich bei ihnen um einzelne römische Varianten der Figurentypen Athena Cherchel-Ostia oder Athena Ince M 8 mit rechts gewendetem Kopf handelt, bleibt zukünftigen Studien vorbehalten. Eine detaillierte Kopienkritik (Landwehr 1993) könnte zur Klärung der Kontroverse beitragen, ob die ikonographische wie stilistische Gleichsetzung unseres Athenakopfes bzw. dieser Figurentypen in 2/3 Lebensgröße mit dem inschriftlich und literarisch überlieferten Kultbild der Athena Hephaisteia des Alkamenes um 421–415 v. Chr. berechtigt ist.
Publiziert:
Bieber 1915, Nr. 13 Taf. 19; AK Kassel 1979, Nr. 436 Abb (P. Gercke). – Im Museum Fridericianum 1777–1912 und im Musée Napoléon 1807–1815: s. hier Kat. 2.13.
Literatur: Zur Athena Hephaisteia von Alkamenes: Lippold 1950, 265 Anm. 4; S. Papaspyridi-Karusu, AM 69/70, 1954/55, 77 ff. A. Hephaisteia = Athena Typus Cherchel; Helbig I. 4. Auflage (1963) Nr. 54 Kopfreplik Vatikan 265. Nr. 377. Helbig IV, 4. Auflage (1972) Nr. 3023 (W. Fuchs) A. Hephaisteia = A. Typus Cherchel; E. Berger, AntK 10, 1967, 85 ff. Nr. 8 Taf. 24, 8; E. Berger, AntK 17, 1974, 135 Anm. 26 Identifizierungsversuche zu hypothetisch; E. Mathiopoulos, Zur Typologie der Göttin Athena im 5. Jh. v. Chr. (1968); H. A. Thompson – R. E. Wycherley, The Agora of Athens. The Athenian Agora XIV (1972) 145 ff. Abb. 36 Rekonstruktionsskizze der Kultbildgruppe von Alkamenes; M. Bieber, Ancient Copies (1977) Fig. 372–385; W.-H. Schuchhardt, Alkamenes, 126. BWPr (1977) 43 ff. A. Hephaisteia = Athena Typus Cherchel; E. B. Harrison, AJA 81, 1977, 137 ff. 265 ff. 411 ff. A. Hephaisteia = Athena Typus Velletri; W. Fuchs, Boreas 1, 1978, 34 f. Taf. 7–8 A. Hephaisteia = Athena Typus Cherchel; F. Brommer, Hephaistos (1978) 77 ff. Abb. 34–39 Rekonstruktionsskizzen der Kultbildgruppe von Alkamenes; Vierneisel-Schlörb 1979, 136 ff. Nr. 12, 142 f. A. Hephaisteia = nicht Athena Velletri; LIMC II (1984) 980 Nr. 247 A. Hephaisteia = ›Pallas de Velletri‹. Nr. 251 A. Hephaisteia = Athena Typus Cherchel s. v. Athena (P. Demargne); LIMC II (1984) 1085 Nr. 146. 146 a. 149 s. v. Athena/Minerva (F. Canciani); A. Delivorrias in: Kyrieleis 1986, 151 ff. Anm. 11 A. Hephaisteia = Athena Typus Ince?; P. Karanastassis, AM 102, 1987, 350 ff. A. Hephaisteia = Athena Typus Velletri? Kat. B III 3 Kopfreplik Heraklion 416 Taf. 47, 3–4; Landwehr 1993, 45 ff. Nr. 31 Taf. 40–42 A. Cherchel S 17, lehnt Rückführung auf A. Hephaisteia ab; Andreae 1995, Taf. 755 Nr. 63 Torso Variante A. Cherchel-Ostia; Torsoreplik Athena Typus Ince. Giuliano 1995, 139 f. Nr. 16 Abb. (G. A. Cellini); Breuer 2001, Nr. 60 Athenakopf B 2407; Louvre Inv. Ma 847. – Zu Alkamenes: Vollkommer 2001, 25 Nr. 7. Hephaisteion-Kultbilder s. v. Alkamenes (I) (W. Müller).
(PG)
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