›Narkissos‹ Kopf, unterlebensgroß Inv.-Nr. Sk 85
Römische Kopie, um 130–150 n. Chr. nach einem griechischen Vorbild um 400 v. Chr. Typus ›Narkissos‹/›Hyakinthos‹.
Weißer, feinkristalliner Marmor, bräunlich patiniert
H insgesamt 18,5 cm H Kinn bis Stirnhaarzange 11,5 cm B an Schläfen 8,5 cm Distanz äußere Augenwinkel 6,5 cm Distanz der Ohren 10 cm
Zugang: Erworben 1777 durch Landgraf Friedrich II. in Rom. |
Erhaltungszustand/Restaurierung: Unergänzt, Iris umrandet, Pupillen flüchtig gebohrt; r. Kopfhälfte durch Brand verfärbt. Verloren: Nasenspitze. Vor 1777 Oberfläche geputzt (speckig durch Säurereinigung?), Schnitte und Abarbeitungen für Ergänzungen und Montage mit Torso Kat. 2.10, Nackenfrisur und Halsrand für neuzeitliche Montage abgearbeitet. Restaurierung 1912/13: (Bieber 1915). Im 2. Weltkrieg brandgeschädigt. Restaurierung 1953: chemisch gereinigt. Restaurierung 1973/75: gereinigt, gefestigt, Haar partiell entsintert, Standdübel montiert.
Beschreibung: Der Knabenkopf lässt trotz des nur schmal erhaltenen Halsansatzes erkennen, dass er vorgebeugt und zur rechten Seite geneigt und gewendet ist. Das Gesicht mit niedriger Stirn, schmalen Augen, leicht eingezogenen Wangen, geschlossenem Mund und schwach gewölbtem Kinn ist asymmetrisch angelegt und hebt die rechte Kopfhälfte hervor. Das dichte kurzlockige Haar bedeckt kappenartig den Kopf von der Stirn über die nur halb sichtbaren Ohren bis zum Nackenansatz. Aus der Mitte nach links verschoben bildet das Stirnhaar eine kleine Gabel, von der aus ein lediglich angedeuteter Scheitel zum Zentrum der gleichfalls nach links verschobenen Spinne mit acht längeren S-Locken auf der Kalotte verläuft. Über dem rechten Auge formen die Spitzen des Stirnhaares ein kleines Zangenmotiv. An unserem Kopf sind die kleinteiligen Locken und das Ohr auf der linken Kopfhälfte voluminös und wenig differenziert ausgeführt, auf der rechten Kopfhälfte schlanker, bewegter und feinteiliger graviert. Am Hinterkopf und im Nacken treffen die linksseitige dicklich gröbere und die rechtsseitig feingliedrigere Haarmodellierung ziemlich unvermittelt aufeinander. Wie bei den Asymmetrien der Gesichtsform und der Haaranlage bietet sich die Erklärung an, dass der Kopf für seine Hauptansicht im rechten Dreiviertelprofil die abgewandte linke Seite durch plastisches Volumen in die perspektivische Wirkung einbezieht, aber in Detailausformung das Haar vernachlässigt. Die unterschiedliche Ausführung der Frisur dürfte im Wesentlichen dem Kopisten anzulasten sein, der sich bei der Ausarbeitung der Neben- und Rückseite des Kopfes in zügiger Bohr- und Meißelarbeit auf das motivisch Notwendige beschränkte. Scharfkantig sind Brauen, Lider und Nasenrücken gezogen; das Gesicht ist poliert. Die Wiedergabe des Haares und Gesichtes mit der Iris-Pupillen-Zeichnung datieren die Kopie, sofern die Überarbeitung des 18. Jhs. keine einschneidenden Verfremdungen verursachte, in späthadrianisch-frühantoninische Zeit.
Der Kopf ist eine Replik des Figurentypus ›Narkissos‹, der in ca. 44 römischen Wiederholungen überliefert ist (zuletzt Schröder 2004). Das Vorbild wird einem unbekannten Künstler der ›Polykletschule‹ um 410–400 v. Chr. zugeschrieben. Der Knabe stützt sich mit der Hand des gestreckten linken Armes auf einen Pfeiler neben seinem leicht vorgesetzten Spielbein und legt die Hand des abgewinkelt nach hinten geführten Armes auf den Glutäus des rechten Standbeines. Mit dem Oberkörper lehnt er sich soweit hinüber zur Spielbeinseite, dass er die Stütze für den Stand benötigt. Die starke Kopfneigung unterstreicht diese motivische Ausrichtung auf die Spielbeinseite. Dieses meistkopierte und meistvariierte Werk der ›Polykletschule‹ hat die praxitelischen, sich anlehnenden und aufstützenden jugendlichen Götter und ihre Begleiter der Spätklassik beeinflusst (s. hier Kat. 1.20, 1.21) und noch die römische Kunst zu Adaptionen und neuen Schöpfungen angeregt.
Die Bezeichnung ›Narkissos‹ wurde dem Figurentypus zuteil, weil die ältere Forschung das statuarische Motiv und den melancholisch gedeuteten Gesichtsausdruck auf diesen sein Spiegelbild im Wasser erkennenden mythischen Knaben bezog (Bieber 1915). Eine andere Deutung schlägt ›Hyakinthos‹ vor, der als Palästrit vom Diskos des Apollon getroffen Opfer eines Zwistes unter göttlichen Liebhabern wurde (Arnold 1969). Beide Deutungen sind nicht zwingend zu beweisen.
Publiziert:
Bieber 1915, Nr. 11 Taf. 14. 15; AK Frankfurt 1990, 600-601 Kat. 125 Abb. (A. Linfert). – Im Museum Fridericianum 1777–1912 und im Musée Napoléon 1807–1815: s. hier Kat. 2.10.
Literatur: Zum Typus und Varianten und Umbildungen: Bieber 1915, Nr. 11 Taf. 14. 15; Lippold 1950,165 Anm. 8; L. Alscher, Griechische Plastik III (1956) 96 ff. Abb. 33 ›Hermes‹ Florenz Körpertypus spiegelbildlich wiederholt; Lauter 1966, 110 Nr. 10 Mitte 2. Jh. n. Chr.; Arnold 1969, 91 ff. 252 ff. Replikenliste. 257 Nr. 28 ›Hyakinthos‹; Zanker 1974, 26 f. G Nr. 23–25 Nachbildungen; Bol 1983, Nr. 19 Abb.; AK Frankfurt 1990, 247 f. Anm. 19 (Replikenliste) Polykletschule, 599-601 Kat. 123–125 Abb., 255 ff. Umdeutungen (A. Linfert); AK Frankfurt 1990, 350 Abb. 214 Kat. 169 spiegelbildliche Wiederholungen, 357 f. Abb. 221 a. b, 640-642 Kat. 170 Umdeutungen, Kat. 171 Umbildung (C. Maderna-Lauter); LIMC VI (1992) 703 ff. Nr. 69 incorrect identifications ›Narkissos‹, ›Hyakinthos‹, ›Adonis‹ s. v. Narkissos (B. Rafn); Breuer 2001, Nr. 19 Hermes Variante des ›Narkissos‹; Schröder, 2004 Kat. 105 Abb. Torsoreplik mit Kopf-Frgt. 124-E; A. Pasquier – J.-L. Martinez, 100 chefs-d’œuvre de la sculpture grecque au Louvre (Paris 2007) 120–121 Inv. Ma 457, Abb. (J.-L. Martinez).
(PG)
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