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Vibullius Polydeukion Bild1

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Vibullius Polydeukion
Büste
Inv.-Nr. Sk 30

Kopie um 1700 nach antikem Vorbild.

Bläulich-weißer, körniger Marmor mit dunklen Adern und Sprenkeln, neigt an Kanten zu oberflächlichen Absplitterungen.

H 38,5 cm
H Kinn bis Scheitel 24 cm
H Kinn bis Haaransatz 17,5 cm



Zugang: Erworben 1750 durch Rat Arckenholtz für Landgraf Wilhelm VIII. auf der Auktion in Den Haag, Slg. Wassenaer-Obdam.


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Erhaltungszustand/Restaurierung: Gewand l. hinten ergänzt. Nasenspitze geringfügig bestoßen. Punktuelle ockerfarbene Verfärbungen im Haar und auf RS. Restaurierung 1985: gereinigt, Standdübel montiert. 2001: mit Standdübel gesockelt.

Beschreibung: Die Büste mit ihrem äußerst knappen Brustausschnitt ist mit einem Mantel bekleidet, der auf der rechten Schulter mit einer Fibel geschlossen ist. Die Rückenstütze bildet mit den konkav geschwungenen Seitenteilen eine blockhafte Einheit. Ihre raue Oberfläche weist regelmäßige Meißelspuren auf. Der Kopf eines Jugendlichen sitzt auf einem relativ kurzen Hals und wendet sich leicht nach rechts. Die Wangen des asymmetrisch angelegten, großflächigen Gesichtes verjüngen sich zum kleinen spitzen Kinn.

Die Augenbrauen sind auf ihren kantigen Bögen nur durch Ritzung angedeutet. Die schmalen flachen Oberlider setzen sich plastisch von den Augäpfeln ab und sind zum äußeren Winkel nach unten gezogen. Die Unterlider sind durch eine Mulde von den Wangen getrennt. Die Pupillenbohrung sitzt direkt unter dem Oberlid, das die eingeritzte Iris überschneidet. Sie berührt das Unterlid nicht. Der Blick ist leicht nach oben gerichtet. Die Spitze der großen schmalen Nase springt deutlich vor, ebenso die Mundpartie mit den plastisch kaum abgesetzten Lippen. Die Oberlippe überragt die vollere Unterlippe. Die Mundwinkel hängen etwas herab. Das Gesicht zeigt insgesamt einen melancholisch-dumpfen Ausdruck.

Das halblange Haar bildet eine dichte Kappe, die leicht nach rechts hin verschoben ist und die Ohren zur Hälfte verdeckt. Die etwas zerzaust wirkenden Sichellocken gehen von einem Wirbel am Hinterkopf aus, der deutlich abgeplattet ist. Sechs Locken hängen fransenartig bis zu den Augenbrauen in die Stirn herab. Über dem rechten Auge bilden sie eine Gabel, über dem linken eine weit geöffnete Zange, zur Schläfe hin folgt jeweils eine parallel geführte Locke. An den Seiten und am Hinterkopf sind die Locken in großen Schwüngen gegeneinander bewegt. Trotz ihres Volumens ist die Frisur am Hinterkopf flachgedrückt. Die einzelnen Locken sind durch flache Ritzungen und Riefelungen an der Oberfläche in Strähnen gegliedert, die kantig und etwas holzschnittartig wirken. Im Bereich der Ohren ist die Haarmasse durch tiefe Bohrlöcher aufgelockert. Am Hinterkopf fallen zwischen den Locken Ketten einzelner Bohrlöcher auf, die nicht zu Kanälen verbunden sind.

Das Material, die bildhauerische Ausführung und die Form der Büste zeigen, dass es sich bei dem Bildnis um eine Arbeit des frühen 18. oder noch des 17. Jhs. handelt (Bieber 1915, Boosen 1985/91). In seiner Frisur und seinen physiognomischen Merkmalen stimmt es mit antiken Porträts des Vibullius Polydeukion überein, deren Identifizierung mittlerweile als gesichert gilt. Dieser war der Lieblingsschüler des reichen Redners und Sophisten Herodes Atticus (101–178 n. Chr.) aus Athen. Nach dem vorzeitigen Tod des noch jugendlichen Polydeukion im Jahre 147 oder 148 n. Chr. ließ Herodes Atticus ihn wie einen Heroen verehren und zahlreiche Bildnisse von ihm aufstellen.

Das Bildnis des Polydeukion ist bislang in 24 antiken Repliken überliefert, die größtenteils in Griechenland gefunden wurden, wo Herodes Atticus seine Besitzungen hatte (Gazda 1980, Meyer 1985, Datsouli-Stavridi 1996–1998). Sie folgen alle demselben Bildnistypus (Gazda 1980). Die Hauptmenge der Porträts ist wohl bereits kurz nach dem Tod des Polydeukion in den Jahren um 150 n. Chr. entstanden (Datsouli-Stavridi 1977, Gazda 1980, Meyer 1985). Für eine Datierung in frühantoninische Zeit spricht auch die Augenbildung. Mit antiken Repliken des Bildnisses muß man aber noch bis zum Tode des Herodes Atticus 178 n. Chr. rechnen (Gazda 1980, Meyer 1985).

Bei der Anfertigung der Kasseler Nachbildung hat sich der Bildhauer um eine motivisch und stilistisch genaue Wiedergabe des antiken Vorbildes bemüht, was sich insbesondere in der Ausarbeitung der Augenpartie und des Haares zeigt. Es gelang ihm auch, den charakteristischen melancholischen Blick einzufangen. Im Vergleich zu den antiken Repliken mit ihrem deutlich lebhafteren Gesichtsausdruck wirkt die neuzeitliche Nachbildung jedoch etwas dumpf und leblos (Bieber 1915). Auch in der Form der Büste und der Gewanddrapierung weicht sie von den antiken Repliken ab. In der handwerklichen Ausführung erreicht sie nicht die Qualität des ebenfalls neuzeitlichen Hadrianporträts Kat. 12.9, was aber auch durch das wesentlich schlechtere Material bedingt ist. Als konkrete Vorlage kommt vielleicht ein antikes Polydeukionporträt auf moderner Büste im Palazzo Corsini in Florenz in Frage (Meyer 1985, Boosen 1985/91).

Publiziert:
Wassenaer Auktion 1750, Nr. 302; Bieber 1915, Nr. 56 Abb. 5.


Literatur: Boosen 1985/91, Nr. 49. – Zum Typus des antiken Vorbilds: Blümel 1933, 30 R 72 Taf. 44; A. Datsouli-Stavridi, AAA 10, 1977, 126 ff.; E. K. Gazda, Bulletin Museums of Art and Archeology. The University of Michigan 3, 1980, 1 ff. Anm. 5; H. Meyer, AM 100, 1985, 393 ff., 399 Nr. II; K. Rhomiopoulou, Ελληνορωμαϊκά Γλυπτά του Εθνικού Αρχαιολογικού Μουσείου (1997) Nr. 91; A. Datsouli-Stavridi, AAA 29–31, 1996–1998, 35 ff.; H. R. Goette, Zum Bildnis des Polydeukion, in: Romanisation und Resistenz. Akten VII. internationales Kolloquium Köln 2.–6.Mai 2001 (2003) 549–557. – Zu den Datierungsgrundlagen des antiken Vorbilds kritisch: W. Ameling, Boreas 11, 1988, 62 ff. – Zu antiken und modernen Büstenformen: Müller-Kaspar 1988, 82 ff.

(NZE)

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