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Aschenurne C. Tanusius Balbinus Bild1

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Aschenurne C. Tanusius Balbinus

Inv.-Nr. Sk 55

50–100 n. Chr.

Weißer, kleinkörniger Marmor mit dunklen Adern.

Kasten: H 35 cm mit Basis
25 cm ohne Basis
B 29 cm
T 28,5 cm
Deckel: H 9 cm
B 29 cm
T 29 cm
T ursprünglich 26,7 cm


Fundort: Angeblich aus Siena

Zugang: Alter Bestand. (Ex Slg. Sani, Siena)


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Erhaltungszustand/Restaurierung: Ergänzungen vor 1777: Basis, Flikkungen an unterer Leiste des Kastens auf der VS und r. NS, an oberer Leiste auf l. vorderer Ecke und r. NS. Rundes rezentes Bohrloch auf der VS unter der Tabula, senkrechter Riss. Weitere rezente Bohrlöcher für neuzeitliche Verklammerungen sowie Risse auf NS im oberen Kyma und im Deckel, auf der r. NS mit Resten des Bleivergusses. Kymata neuzeitlich nachgearbeitet, Ranken auf NS überarbeitet. Am antiken, aber nicht zugehörigen Deckel rückwärtiger Streifen von 2,3 cm Breite neuzeitlich angestückt, Flickungen an den vorderen Ecken. Blattdekor auf dem Dach und an den Pulvini nachgearbeitet. Oberfläche stellenweise leicht bestoßen. Restaurierung 1985: gereinigt. 2001 gereinigt.

Beschreibung: Der dickwandige querrechteckige Kasten ist vollständig ausgehöhlt. Seine unteren und oberen Abschlußleisten sind auf den Nebenseiten glatt, auf der Front profiliert. Darauf folgt unten ein stehendes, oben ein fallendes Blattkyma. Eine Tabula, die von einem Scherenblattkyma gerahmt ist, nimmt einen Großteil der Front ein. Sie trägt die unregelmäßig eingeritzte Inschrift C · TANVSI · C · f. |BALBINI · | ANICI, die Gaius Tanusius Balbinus Anicius, Sohn des Gaius, als Inhaber der Urne nennt.

Zwei leicht vertiefte, schmale Felder flankieren die Tabula. Sie zeigen pflanzliche Kandelaber, die aus Akanthuskelchen emporwachsen und Kantharoi mit bauchigen geriefelten Körpern tragen. Seitlich zweigen von den Kandelabern flach eingeritzte Blätter ab, über den Kantharoi kreuzen sich jeweils zwei eingeritzte Zweige. Die Kandelaber und die Blattkymata auf der Front zeigen kleine einzelne Bohrlöcher.

Auf den Nebenseiten wachsen Ranken aus flachen Akan-thuskelchen zu baumartigen Gebilden empor. Ein Blütenkelch mit Knospen überragt die große rosettenförmige Zentralblüte. Streng symmetrisch geschwungene Ranken enden zu beiden Seiten in je zwei weiteren Rosettenblüten, die etwas kleiner sind. Aus den Ranken sprießen längliche weiche Blätter sowie Knospen. Auf den Blättern sitzen jeweils zwei Schmetterlinge, auf der rechten Nebenseite unmittelbar neben der Zentralblüte und nach außen gewandt, auf der linken Nebenseite weiter außen und nach innen gewandt. Die Rankengebilde mit ihren dünnen Zweigen stimmen auf beiden Nebenseiten in ihrer Anlage überein, weisen jedoch im Detail Variationen auf. Die unverzierte Rückseite ist mit Spitz- und Zahneisen grob geglättet.

Das Giebelfeld des dachförmigen Deckels zeigt zwei Vögel, die an Kirschen picken. Spiralbänder säumen die Ränder des Deckels. Die Dachflächen teilen sich beidseits des Firstes in je zwei Felder mit Blattmotiven. Rollen aus akanthusartigen Blättern, die in der Mitte jeweils von einem doppelten Seil umwunden sind, bilden die seitlichen Pulvini, die auf der Front in Blattrosetten enden.

Kasten und Deckel, die vermutlich aus der Umgebung von Siena stammen (Sinn 1987), gehören zu Aschenurnen aus stadtrömischer Produktion. Der auffallend große Unterschied zwischen den Blütenrosetten einerseits und den Ranken andererseits in Reliefhöhe und Färbung der Oberfläche spricht dafür, dass die Nebenseiten des Kastens teilweise einer neuzeitlichen Überarbeitung unterzogen wurden. In den Blütenzwickeln sind z. T. Absätze stehengeblieben, die zu einer ursprünglichen Oberfläche gehört haben könnten. Es ist jedoch nicht mehr feststellbar, inwieweit die Überarbeitung den antiken Entwurf beeinträchtigt oder verändert hat. Auf einer Zeichnung, die den Kasten vermutlich noch vor seiner Restaurierung zeigt, sind auf den Nebenseiten einzelne Blüten ohne verbindende Ranken zu sehen (Cristofani 1979, Sinn 1987).

Sowohl der Kasten als auch der Deckel sind vermutlich in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. entstanden. Eine genauere Datierung ist aufgrund der neuzeitlichen Überarbeitung und mangels äußerer Kriterien nicht möglich (Sinn 1987, 35. 164).

Das pflanzlich bestimmte Dekor von Kasten und Deckel entspricht der im 1. Jh. n. Chr. vorherrschenden Verzierung von Marmorurnen. Kandelaber zählen als Beleuchtungsträger und Weihrauchständer zu den sakralen Gegenständen, die nicht nur bei Begräbniszeremonien und im Totenkult eine wichtige Rolle spielen (Sinn 1987, 58. 83), sondern auch im Kult der Götter. So werden Kandelaber im Rahmen der augusteischen Pietas-Programmatik zu einem wichtigen Element der offiziellen Bildsprache, wo sie besonders eng mit dem vom Kaiser geförderten Apollonkult verbunden sind (Zanker 1990, 93 f.).

In neronischer und flavischer Zeit finden derartige Motive verstärkt Eingang in die private Grabkunst. Dort beziehen sie sich aber nicht mehr direkt auf die Apollonverehrung und die augusteische Propaganda, sondern sie verweisen auf den Aschenurnen als allgemeines Symbol der Pietas auf die Frömmigkeit der Verstorbenen (Sinn 1987, 74 f.; Zanker 1990, 94, 276 ff.).

Die Blüten auf den Nebenseiten des Kasseler Urnenkastens lassen sich ebenfalls auf die offizielle Bildsprache der augusteischen Epoche zurückführen. Sie stehen dort als Teil aufwendiger Rankengebilde für Fruchtbarkeit und Fülle. Damit knüpfen sie an eine lange Tradition an, die sich bereits in der unteritalischen Vasenmalerei des 4. Jhs. v. Chr. manifestiert (Zanker 1990, 184 f.). In der Staatspropaganda werden Ranken, die durch Blüten und kleine Tiere bereichert sind, zum Symbol des ›goldenen Zeitalters‹ (saeculum aureum), das mit der Herrschaft des Augustus anbrechen sollte (Zanker 1990, 184 ff.). Derartige Motive werden ebenfalls nach und nach auf private Grabmäler übertragen (Zanker 1990, 277), wo sie als Chiffren für Fruchtbarkeit und den Fortbestand des Lebens adäquat erscheinen. Auch einzelne Blüten können die Nebenseiten von Aschenurnen verzieren (z. B. Sinn 1987, 108 Nr. 67; 120 Nr. 114). Es ist möglich, dass die Ranken auf dem Kasseler Exemplar zumindest im Kern antik sind.

Reliefverzierte Marmorurnen wurden auf Vorrat gefertigt. Der Käufer ließ die Inschrift nachträglich in die dafür vorbereitete Tabula einmeißeln (Sinn 1987, 18). Bei der Aufstellung in einer Grabkammer oder einem Columbarium war die Rückseite nicht sichtbar.

Die Ergänzung der Urne durch eine Basis entspricht der üblichen Restaurierungspraxis des 18. Jhs. (Sinn 1987, 3). Das gleiche gilt für die Anstückung eines rückwärtigen Streifens, um einen zu kleinen, nicht zugehörigen Deckel mit einem Kasten zu verbinden.

Publiziert:
Bieber 1915, Nr. 84; M. Cristofani, Siena. Le Origini (1979) 174 Nr. 171 i; F. Sinn, Stadtrömische Marmorurnen (1987) 164 Nr. 290. – Zur Inschrift: CIL XI 1,1802.


Literatur: F. Sinn, Stadtrömische Marmorurnen (1987) 14 f.; 17 f.; 35; 54 ff.; 74 f.; 83; 108 Nr. 67; 120 Nr. 114. – Zum Dekor: P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, 2. Auflage (1990) 93 f. 184 ff. 276 ff.

(NZE)

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